Spur 1 Reisen: zu kompliziert und intellektuell zu anspruchsvoll?

Überhaupt nicht! Das Ganze liest sich wie ein Unterhaltungsroman. In der Absicht, mit diesem Buch einen leicht lesbaren Unterhaltungsroman vorzulegen, wuchern Widersprüche: ist das Thema Migration Unterhaltung? Sind ein Reisebericht und eine Dokumentencollage ein Roman? Dennoch, der "Roman" sollte leicht lesbar sein - und unterhaltend.

 

Das Buch mag (für Fachleute) als Provokation erscheinen, da es bei Books on Demand (BoD) rauskommt, Buchkategorien (Sachbuch / Fiktion) vermischt und zwei äusserlich nicht zusammenhängende Texte zusammenfasst, 400 Seiten hat und Privates beinhaltet.

BoD veröffentlicht von Autoren eingereichte Manuskripte tel quel, ohne inhaltlich oder formal darauf Einfluss zu nehmen. Insbesondere haben die Texte kein professionelles Lektorat durchlaufen, sind also unvermittelt und in diesem Sinne authentisch, mit der Gefahr der sprachlichen Holprigkeit und Weitschweifigkeit.

Ungewohnt oder gar verpönt ist es, einen Sachtext (Dokumentencollage) mit Fiktion (fiktivem Reisebericht) zusammenzusetzen. Mir scheint es jedoch nur so möglich, auf natürliche Art das hier behandelte Thema der Migration historisch in seinen konkreten Auswirkungen auf einen gewöhnlichen Alltag vertieft zu behandeln und gleichzeitig mit der Gegenwart zu verknüpfen. Dokumentierte private Erfahrungen stellen die irritierende und revoltierende Wirklichkeit besser dar als Fiktion, der immer ein Hauch von Märchenhaftigkeit anhaftet.

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Kommentare: 1
  • #1

    Andreas Pritzker (Samstag, 31 August 2013 15:15)

    Rainer Bresslers „Spur 1 - Reisen“ besteht aus zwei Teilen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Schaut man näher hin, sind die beiden Teil durch die Motive sowie die berichteten Tatsachen eng miteinander verflochten.
    Der erste Teil widmet sich den Erfahrungen des Kess Frank vor und während einer spontan entschiedenen Japanreise. Frank ist charakterisiert durch Ungebundenheit und seine Lust, die Welt zu erfahren und daraus Schlüsse für sich selbst abzuleiten; auch durch seine Kunst der Wahrnehmung, die ungeschminkte Darstellung neben den Tagträumen sowie die ehrlichen Reaktionen auf seine Beobachtungen. Gezeigt wird, wie Frank im vollkommen fremden, unverstandenen Land die Ohnmacht erfährt (welche die Erzählenden im Dokumentarteil noch viel schlimmer erfahren) und was er dagegen oder darin unternimmt. Frank ist gezwungenermassen (und hier klingt die Dokumentation wieder an) ein Weltbürger, der zwar in der Schweiz verankert ist, aber vermutlich nicht genau weiss, wohin er gehört.
    Der Text zeugt von der einzigartigen Bildung des Autors in Belangen Literatur, Kultur und Geschichte und von seinem offensichtlichen Wissen, wie die schweizerische Gesellschaft tickt – das Kapitel "Wirkungskreis" ist ein herrliches Stück Schweizer Satire.
    Der zweite, dokumentarische Teil beschreibt die Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nazis in der Form von erzählter Geschichte. Vieles von den Vorgängen ist uns vertraut. Die stetig auf die Vernichtung hin steuernden Aktionen der Nazis sind in Bresslers Text durch eine Auswahl staatlicher Verordnungen, Auszügen aus geschichtswissenschaftlichen Werken und aus dem Tagebuch von Viktor Klemperer meisterhaft dokumentiert. Bei deren Lektüre kommt einen das Grausen an. Demgegenüber berührt uns, wie die betroffenen Menschen diese Vorgänge erleben – zumeist ohnmächtig, aber auch mit dem Versuch, sich und andere zu retten, was mit einem vollständigen Bruch mit der bisherigen Erfahrungswelt verbunden ist - dieses Motiv erscheint auch bei der Japanreise im erzählerischen Teil. Auffallend ist der liebevolle Ton in der Familie Bressler-Frank, den - so der Eindruck, der in der Schweiz gelandete Emigrant Hans-Günther in seiner eigenen Familie nicht weiterführen konnte. Wie der junge Psychiater seine Zeit erlebt, ist in den Tagebucheinträgen dokumentiert. Darin spiegeln sich, neben Alltäglichem, die Ängste um die in Deutschland verbliebene Familie, die Unsicherheit bezüglich der eigenen Stellung in der Schweiz, schliesslich, wie die Angehörigen einer Familie und ihres Freundeskreises, die in Breslau lebten und wirkten, plötzlich über die ganze Welt verstreut werden.
    Dokumentationen sind manchmal schwer lesbar. Durch die Wahl unterschiedlicher Farben für Briefe, Tagebucheinträge, staatliche Verordnungen und wissenschaftlicher Texte erleichtert uns der Autor den Zugang wesentlich.
    August 2013, Andreas Pritzker